Urgroßmutter deckt den Tisch
Wächtersbacher Tischkultur im Lindenhof Keramikmuseum
Brachttal-Streitberg (dl). Mit viel Liebe und Sorgfalt wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Sonntagstafel mit gutem Geschirr, formschönen Gläsern und kunstvollen Bestecken gedeckt. In dieser Region kam das dafür benötigte Geschirr sehr häufig aus der Wächtersbacher Keramikfabrik. Marlies und Klaus-Dietrich Keßler konnten ein nahezu vollständiges Service aus dieser Zeit erwerben und präsentieren es derzeit in einer Sonderausstellung mit den dazu passenden Gläsern und Bestecken.
„Das Auge isst mit" ist ein Spruch unserer Großeltern, der durch zahlreiche Untersuchungen von Ernährungswissenschaftlern bestätigt wurde. Auch wenn im Alltag für eine sorgfältig eingedeckte Tafel meist die Muße fehlt, so wird in den Familien zunehmend am Sonntag wieder mehr Wert auf einen schön geschmückten Mittagstisch gelegt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Geschirr, von dem gegessen wird, und das durch Material, Design und Dekor appetitanregend sein sollte.
Joseph Maria Olbrich wird das „Würfel-Dekor" des im Lindenhof Keramikmuseum ausgestellten Tafelgeschirrs zugeschrieben. Die schlichte symmetrische Anordnung der blauen Würfel auf der naturweißen Keramik lässt darauf schließen, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an Entwürfe Olbrichs hergestellt wurde. Nach Einschätzung von Klaus-Dietrich Keßler gehört es zu den ersten für die damalige Zeit in größeren Stückzahlen in der Wächtersbacher Keramikfabrik hergestellten Tafelgeschirren, die sich auch die weniger „betuchten" Brachttaler und Wächtersbacher Bürger leisten konnten. Von einer dieser Familien haben die Keßlers dieses Service erstanden, dass trotz sichtbarer Benutzungsspuren außerordentlich gut und fast vollzählig erhalten ist. Dazu passen die mitdekorierten Küchen-Vorratsdosen des gleichen Dekors mit Jugendstil-Beschriftungen, die aus dem Museums-Fundus stammen.
Die wegen ihrer Form und Größe imponierenden Gläser, die außerdem die Tafel schmücken, stammen aus einem Dorfgasthof, der in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts geschlossen wurde. Keßler hat sie bei der Auflösung der Wirtschaft erworben. Aufgrund des Eichmaßes, zu dem ein großes „L" für Liter eingraviert ist, und der massiven und schweren Ausführung des Glaskörpers, lässt sich schließen, dass diese Gläser wahrscheinlich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hergestellt wurden.
Zeitlich zu Geschirr und Gläsern passen auch die Bestecke, die Marlies Keßler aus ihrer Sammlung für die Ausstellung zur Verfügung gestellt hat. Von den Vorbesitzern weiß sie, dass die um 1900 hergestellt wurden. Das liegt insoweit nahe, da die Bestecke aus Solingen in dieser Zeit noch nicht aus rostfreiem Stahl gefertigt wurden. Das bedeutet aber auch, dass die Teile jedes Mal vorm Benutzen ordentlich geputzt werden müssen. Genauso wie die Gläser, die nach dem Waschgang in der Spülmaschine einer zusätzlichen Politur von Hand bedürfen, will man den Glanz des Glaskörpers so richtig zur Geltung bringen. Da ist die Keramik doch weniger arbeitsintensiv. Die hat schon so manchen Braten dank der hochwertigen Glasur nahezu ohne Spuren überdauert und ist dabei vergleichsweise pflegeleicht.
Quelle: Gelnhäuser Neue Zeitung 10.09.2010